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Von Neisse ... nach Nysa
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Mit Phantasie
und Akribie
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Von Neisse unterwegs nach Nysa
Zeichnungen und Aquarelle von Heinrich J. Jarczyk im Museum seiner Heimatstadt Neisse/Nysa ausgestellt.

Mit einer Ausstellung von 96 Zeichnungen und Aquarellen aus sieben Jahrzehnten, die vom 27. März bis 23. Mai 2010 im Museum der Stadt Neisse zu sehen waren, wurde dem promo­vierten Biologen und passionierten Zeichner und Maler Heinrich J. Jarczyk zu seinem 85. Geburtstag, dessen er sich im Januar dieses Jahres erfreuen konnte, ein Herzenswunsch er­füllt. Zur Ausstellungseröffnung am 27. März ist er zum zweiten Mal nach 1945 an den Ort seiner Kindheit und Jugend zurückgekehrt – zusammen mit seiner Frau und einer polnisch sprechenden Nichte. Im Jahr 2000 hatte man den damals 75-Jährigen bereits am gleichen Ort mit einer Ausstel­lung seines graphischen Werks geehrt, wofür er sich seinerzeit mit einer Schenkung der 83 ausgestellten Radierungen revanchierte. Diesen Satz von Radierungen über­lie­ß er sechs Jahre später auch dem Schlesischen Museum zu Görlitz anlässlich einer Aus­stellung seiner Radierungen, Aquarelle und Zeich­nungen im neu eröffneten Haus.

Zur Vernissage der Neisser Ausstellung war die Museumshalle im barocken Bischofs­palais, das nach der Zerstörung im Krieg wieder aufgebaut wurde, voll besetzt; besonders fiel der hohe Anteil von Jugendlichen auf. Dazu trug wohl auch bei, dass die Besucher mit einem Konzert von Schülern der nach dem Komponis­ten Witold Lutosławski benannten örtlichen Musikschule eingestimmt wurden: Zwei Mädchen brachten am Flügel einen Walzer und ein Nocturne von Frédéric Chopin zu Gehör (wie könnte es im Jahr von Chopins 200. Geburts­tags anders sein?) – im Wechsel mit einem schmissigen Tango von Astor Piazzolla und dem weltbekannten Ohrwurm »Bésame Mucho« von Consuelo Velázquez, dargeboten von einem jungen, behenden Akkordeon-Spieler.

Zu den von der Museumsdirektorin Dr. Małgorzata Radziewicz namentlich begrüß­ten Gästen zählten u. a. der deutsche Konsul Ludwig Neudorfer aus Oppeln (gleichzeitig Schirm­herr der Ausstellung), der Vorsitzende des Neisser Kreistags Mirosław Aranowicz und Prälat Nikolaus Mróz von der am Ring gelegenen St. Jakobuskirche. Die Hausherrin gab sodann eine kurze Einführung und würdigte dabei Herrn Jarczyk als weltläufigen Wissenschaftler und Künstler, der viele Länder der alten und neuen Welt bereist und seine Eindrücke in Bildern festgehalten hat. Ferner erinnerte sie an die generöse Schenkung, die das Museum von ihm vor zehn Jahren erhalten habe. Ein Dolmetscher aus dem Oppelner Kon­sulat übersetzte ihre Worte ins Deutsche.

Herr Jarczyk dankte seinerseits für das großartige Geschenk, das man ihm mit der Aus­stellung in dem ehrwürdigen Gebäude gemacht habe (an deren Zustandekommen der Autor dieser Zeilen mitwirken durfte), und gab ein paar Erläuterungen zu den gezeigten Bil­dern, die seine Nichte ins Polnische übersetzte. Die ältesten Bilder datieren aus den letzten Monaten des Krieges und aus der kanadischen und belgischen Kriegsgefangenschaft, in die er nach schwerer Verwundung geraten war. Pinsel, Federn und Kohlestifte ersetzten in jener Zeit den fehlenden Fotoapparat. Seit 1952, mit dem Eintritt ins Berufsleben, waren kleine Skizzen­bücher in den Anzugtaschen seine ständigen Beglei­ter. Häufige berufliche, nach der Pensio­nierung im Jahr 1987 auch private Reisen, eröffneten ihm Eindrücke von unbekannten Welten und Kulturen. »Mögen die Bilder das Fern­weh der Be­trach­ter beflügeln und etwas von der Schönheit unserer Welt vermitteln«, so sein Wunsch. Zur Komplettierung seines Radierwerks übergab er dem Museum weitere sieben in den letzten Jahren entstandene Arbeiten, darunter eine Ansicht des Museums in Neisse und des Görlitzer Schönhofs, in dem sich bekanntlich das Schlesische Museum befindet.

Jarczyks Zeichnungen und Aquarelle füllen – nach den bereisten Ländern geordnet – zwei große Ausstellungsräume. Den Anfang bilden ein paar vergilbte Blätter, die in den Jahren 1943 bis 1946 hinter der Front und in der Gefangenschaft entstanden sind und Momentaufnahmen von Personen, Situationen, Gebäuden und Landschaften zeigen. Als 18-Jähriger war er gleich nach dem Abitur am Gymnasium Carolinum und kurzer militärischer Ausbildung auf den Kriegsschauplatz in Nordfrankreich abkommandiert worden. Aus der Zeit der Gefangenschaft sind auch einige Reminiszenzen an seine Heimatstadt ausgestellt, die er aus der Erinnerung zu Papier gebracht hat, nachdem sein Neisser Skizzenbuch bei der Gefangennahme requiriert wurde. Erstaunlich die Detailgenauigkeit dieser Ansichten von markanten Gebäuden der Stadt, die auf ein fotografisches Gedächtnis des Zeichners schließen lassen. Aus allen diesen im wesentlichen auf der Grundlage des schulischen Zeichenunterrichts entstandenen frühen Bildern ist ein großes Talent mit enormem Gestaltungsdrang zu spüren (von einem Mitgefangenen konnte er sich überdies die Technik des Radierens aneignen). Die Entwurzelung durch Krieg und Heimatverlust und wohl auch die Familientradition ließen den jungen Mann jedoch keinen künstlerischen Berufsweg einschlagen, sondern einen »ordentlichen« Brotberuf ergreifen, zumal er sich auch seiner Neigung für die Fächer Biologie und Chemie in der Schule bewusst war.

Der aus der Gefangenschaft Entlassene fand im Frühjahr 1947 seine Eltern und Geschwister in Kaufbeuren im Allgäu wieder; der 67jährige Vater, ehedem Lehrer für Deutsch, Latein und Französisch am »Carolinum«, unterrichtete am dortigen Gymnasium. Im selben Jahr schrieb der Sohn sich an der Universität München zum Studium der Biologie und Chemie mit Nebenfach Kunstgeschichte ein. Obwohl er als Werkstudent arbeiten musste und für Zeitungen fotografierte und malte, schloss er sein Studium 1952 mit der Dissertation ab (am Zoologischen Institut des Verhaltensforschers Karl von Frisch, des späteren Nobelpreisträgers, galt sein Interesse dem Phosphorstoffwechsel der Schlammfliege, einer bienenähnlichen Fliege, auf die er schon im belgischen Bergwerkslager aufmerksam geworden war). Diesen Lebensabschnitt markieren drei in der Ausstellung hängende Bilder aus den Jahren 1951/52 vom zerbombten München sowie – im Kontrast dazu – von Allgäuer Rindern und von Motiven aus der Altstadt von Überlingen am Bodensee.

Aus den 1950er und 1960er Jahren gibt es in der Ausstellung – von einer Ausnahme abgesehen – keine weiteren Zeugnisse künstlerischer Betätigung. In diesen Jahren war Heinrich J. Jarczyk offenbar voll damit beschäftigt, sich eine berufliche Stellung aufzubauen. Er begann in einem großen bayerischen Chemie-Werk, wechselte zu einer baden-württem­ber­gischen Firma, die Pflanzenschutzgeräte entwickelte, und verbrachte im Rahmen dieser Tätigkeit mehrere Monate mit Versuchen in fünf südamerikanischen Ländern. Es folgte ein mehrjähriger Forschungs­aufenthalt an der Universität Alexan­dria/Ägypten sowie 1959 ein Einsatz am Max-Planck-Institut für Biochemie in München. Von 1960 bis zur Pensionierung arbeitete er schließlich beim Bayer-Konzern in Leverkusen auf verschiedenen Forschungsfeldern. In diese und die von beruflichen Verpflichtungen freie Zeit fallen die meisten der ausgestellten Werke. Auch zuweilen schnell hingeworfen erscheinende Zeichnungen und Aquarelle verraten in Auffassung und Ausführung ein stupendes Können. Gebäudeansichten stehen neben Landschafts- und Naturstudien, Portraitskizzen neben Tierdarstellungen und Stillleben. Der Bogen reicht von Deutschland über die west- und südeuropäischen Nachbarländer und Polen nach Malta, Ägypten, Mali, Australien, Thailand, China, den USA, den Bahamas und Grenada. In den Bildern sind künstlerische Phantasie und (natur)wissen­schaft­liche Akribie – zwei scheinbare Gegensätze – eine enge Verbindung eingegangen. Man erinnert sich des Goetheschen Verses aus einem seiner Sonette: »Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen / und haben sich, eh’ man es denkt, gefunden; / der Widerwille ist auch mir verschwun­den, / und beide scheinen gleich mich anzuziehen.«

Durch den überraschenden Ausfall eines feststehenden Sponsors konnte der vorgesehene Ausstellungskatalog bedauerlicherweise nicht realisiert werden. Die Gespräche am Rande der Ausstellung mit der Museumsleiterin, dem Kreistagsvor­sitzenden und dem deutschen Konsul boten jedoch Gelegenheit, für die nachträg­liche Verwirklichung einer solchen Dokumentation zu werben, durch die sich die ausgestellten Werke weiteren, museums­ferneren Kreisen nahebringen ließen. Den noch fehlenden Betrag steuert das Haus Schlesien in Königs­winter-Heisterbacher­rott bei; es übernimmt die Ausstellung von Neisse und wird sie vom 13. Juni bis 3. Oktober dieses Jahres im Museum für schlesische Landeskunde zeigen.

Eine besondere Freude bereitete es Herrn Dr. Jarczyk zu sehen, wie jung und pulsierend das heutige Nysa allein durch die vielen Jugendlichen auf Straßen und Plätzen erscheint, und die positiven Veränderungen im Stadtbild gegenüber dem düsteren Eindruck vor zehn Jahren wahrzunehmen. Der Rathausturm steht überraschenderweise wieder aufgebaut im Zentrum des Rings, wenn auch nicht ganz so hoch wie vor dem Krieg; dafür braucht man ihn nicht mühsam zu erklimmen, sondern kann mit dem Lift hochfahren und den schönsten Rundblick über die Stadt genießen. Konkrete Planungen beinhalten sogar die Wiedererrichtung der zu einem großen Teil kriegszerstörten und abgetragenen Bebauung im Innern des Rings. Ein außerordentlicher Anziehungspunkt in Schrittweite vom Ring ist die erhalten gebliebene und gut restaurierte St.-Hedwigs-Bastion, ein Teil des legendären Befestigungsgürtels der Stadt.

Beim Gang durch die Straßen stellten sich bei Herrn Jarczyk auf Schritt und Tritt Erinnerungen ein: an seine Ministrantenzeit im Stammhaus der Grauen Schwestern (deren Gründerin Maria Merkert vor drei Jahren seliggesprochen wurde), an den Feuerwehrdienst und die Brandwachen im Stadttheater, an den Tanzstundenschwarm, an den Zeichenlehrer am Gymnasium, der zu­gleich Leiter des städtischen Museums war (wo es für die guten Schüler meist etwas zu werkeln gab), an den Chemie- und Physiklehrer, der letztlich den Grundstein für seine spätere Berufswahl legte, an die Blochsche Gardinenfabrik in unmittelbarer Nähe zur eigenen Wohnung und an den Sohn des letzten Inhabers, den Nobelpreisträger Konrad Bloch, den er später persönlich kennenlernen konnte, und seine 99-jährige Witwe, eine geborene Münchnerin, zu der immer noch brieflicher Kontakt besteht – übrigens auch meinerseits.* Beim Namen Konrad Bloch trafen sich die beiderseitigen Erinnerungen; habe ich mich doch, als er vor zehn Jahren starb, für einen Nachruf eingehend mit seiner Person und seinem Wirken befasst und u. a. (mit Erfolg) dafür eingesetzt, dass die zum Gedenken an ihn gestiftete Bronzetafel am Gebäude des vormaligen Realgymnasiums angebracht wurde, das er besuchte – gegenüber der »Kreuzherrnkirche« St. Peter und Paul, einer der schönsten Barockkirchen Schlesiens. Der angrenzende Gebäudetrakt des einstigen Kreuzherrnstifts, der jetzt eine Begegnungs- und Bildungsstätte der Diözese Oppeln beherbergt, bot uns ein stilvolles Quartier.


*)Von Peter Bloch, dem Sohn des Ehepaars Konrad und Lore Bloch, habe ich nachträglich erfahren, dass seine Mutter am
18. Februar 2010, vor Vollendung des 99. Lebensjahrs, verstorben ist.


Erschienen in:

»Oberschlesien« Nr. 8 vom 30. April 2010, Senfkorn-Verlag A. Theisen, Görlitz und St. Annaberg.

»SCHLESIEN HEUTE« 5/2010, Senfkorn-Verlag A. Theisen, Görlitz.

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